Leben mit verbaler Entwicklungsdyspraxie – Luisas Weg zur Sprache

Veröffentlicht am 9. Juni 2025 um 23:32

Wenn Sprache nicht will – und das Herz laut spricht

Es gibt Momente im Leben, die brennen sich für immer ins Herz. Einer dieser Momente ist, wenn du

erkennst: Dein Kind möchte mit dir sprechen – aber kann es nicht. Nicht aus Trotz, nicht aus

Schüchternheit. Sondern weil sein Körper die Worte nicht formen kann. So begann unsere Geschichte mit

Luisa – einer fröhlichen, wachen und sensiblen Tochter, deren Sprache lange Zeit nur in Lauten zu uns

fand.

Laut, fröhlich, unverständlich – die ersten Zeichen

Schon früh machte Luisa auf sich aufmerksam. Sie war kein stilles Baby – im Gegenteil. Sie sang,

plapperte und rief mit lauter Stimme – aber es waren keine Worte, sondern Vokale. Melodien aus „a“, „i“

und „o“, die sie ausdauernd und voller Freude von sich gab. Sie wollte kommunizieren – das war spürbar.

Aber es kamen keine Konsonanten, keine verständlichen Silben. Trotzdem war ihr Wille da. Sie versuchte,

sich mitzuteilen – auf ihre Weise.

Die Sorge wuchs – und mit ihr die Verzweiflung

Als andere Kinder sprachen, blieb Luisa stumm – zumindest für Außenstehende. Wir spürten, dass etwas

nicht stimmte. Doch die ersten Ärztinnen meinten: „Ein Late Talker – das wird schon.“ Ich wollte das

glauben. Mein Mann dagegen drängte auf eine klare Diagnose – und behielt recht.

In dieser Zeit durchforsteten wir das Internet. Wir lasen Studien, schauten YouTube-Videos – aber fast

alles, was wir fanden, machte uns Angst. Es gab kaum Mut machende Erfahrungsberichte. Wir fühlten uns

allein, überfordert – und gleichzeitig wollten wir Luisa so sehr helfen.

Die Diagnose – und viele offene Fragen

Als Luisa schließlich die Diagnose 'verbale Entwicklungsdyspraxie' erhielt, waren wir erschüttert. Diese

seltene neurologische Störung betrifft die Sprechbewegungsplanung – das Gehirn weiß genau, was

gesagt werden soll, aber die Muskeln im Mundbereich bekommen die richtigen Signale nicht oder nur

schwer übermittelt. Es ist, als würde ein Orchester bereitstehen – jedes Instrument gestimmt, alle Musiker

an ihrem Platz – aber der Dirigent fehlt. Die Musik bleibt chaotisch, weil niemand den Einsatz gibt. So fühlt

sich verbale Dyspraxie für viele Kinder an.

Bereits vor der Diagnose hatte Luisa Logopädie begonnen – mit der Annahme, sie sei ein sogenannter

'Late Talker'. Doch die Fortschritte blieben aus. Die Logopädin blieb vage, wich Fragen aus – bis mein

Mann entschlossen sagte: ,,Wir brauchen jetzt eine klare Diagnose. Wir müssen wissen, was los ist.'' Diese

Worte öffneten den Raum – und schließlich wurde offen ausgesprochen, was wir längst vermutet hatten:

verbale Dyspraxie.

Und dann kam diese Angst – tief, bohrend, kaum in Worte zu fassen.
Was, wenn sie niemals sprechen kann? 
Was, wenn sie für immer in ihrer Welt bleibt, unfähig, sich mitzuteilen? Diese Vorstellung begleitete

uns wie ein Schatten. Wir weinten viel. Wir fühlten uns hilflos. Es gab Tage, da haben wir uns gefragt, wie

ihr Leben wohl aussehen würde – ohne Sprache. Wie kann man ein Kind wirklich begleiten, wenn es nicht

sagen kann, was es fühlt, denkt, braucht? Diese Sorge war lähmend – und doch mussten wir

funktionieren. Für sie. Für uns. Für die Familie.

Zusätzlich wurde deutlich, dass Luisa als Säugling das KISS-Syndrom hatte. Wir waren beim

Osteopathen, und es wurde später erklärt, dass in seltenen Fällen ein Einrenken eine neurologische Folge

haben kann – wie z. B. ein sogenannter Mini-Schlaganfall. Ob das bei Luisa der Auslöser war, oder ob es

genetische Ursachen hatte, wissen wir bis heute nicht. Ich war in dieser Zeit schwanger mit unserem

fünften Kind – und plötzlich standen wir vor der Frage ob es wieder so sein wird? Es war keine

Ablehnung gegenüber dem neuen Leben – sondern eine tiefe, ehrliche Angst. Und trotzdem überraschte uns Luisa immer wieder. In einem Alter, in dem andere Kinder noch eng begleitet werden,

kletterte sie selbstständig auf einen Stuhl, holte sich ihr Brot, bereitete es sich selbst zu.

Nicht, weil wir nicht da waren – sondern weil sie eigene Lösungen fand, wenn die Sprache nicht reichte.

Sie war erfinderisch, mutig und willensstark – schon als kleines Kind.

Ein langer Weg mit kleinen Schritten

Nach der Diagnose begann Luisa die Logopädie. Einmal pro Woche, mit vielen Bildern, Lautsymbolen und

Handzeichen. Sie machte Fortschritte – langsam, aber spürbar. Jeder neue Laut, jeder Blickkontakt wurde

zu einem kleinen Meilenstein. Es war kein einfacher Weg – für sie nicht, und für uns als Familie auch nicht.

Aber wir lernten, Geduld zu haben. Zu sehen, was wirklich zählt: Dass sie kommunizieren will. Dass sie

nicht aufgibt.

Freundschaft und Unterstützung – was wirklich hilft

In ihrer Kita wurde Luisa gesehen. Ihre Erzieherinnen blieben aufmerksam, gaben ihr Zeit und Raum.

Andere Kinder fragten freundlich nach, wenn sie etwas nicht verstanden – und lernten, mit ihr auf ihre

Weise zu sprechen. Das hat ihr unglaublich geholfen. Heute ist sie ein aufgewecktes Kind, voller Freude,

voller Geschichten. Sie hat Freund:innen gefunden, kommuniziert mit Gesten, Mimik – und Worten. Nicht

perfekt, aber mit Herz.

Mut machen – für andere Familien

Was wir aus dieser Zeit mitnehmen: Die größte Angst ist oft nicht die Diagnose – sondern das Gefühl,

nicht verstanden zu werden. Für das Kind. Und für die Eltern.

Bitte holt euch Hilfe. Es gibt so viele Wege – Frühförderung, Logopädie, Beratung. Und ja: Auch das

Jugendamt kann helfen. Wir haben in Berlin sehr gute Erfahrungen gemacht – wir wurden unterstützt,

nicht kontrolliert.

Luisa hat heute eine Stimme. Und ihre Geschichte soll anderen Mut machen. Denn auch wenn Sprache

nicht sofort kommt – Liebe findet Wege. Und manchmal reicht ein Laut, um zu sagen: Ich bin da

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