Wenn Sprache nicht will – und das Herz laut spricht
Es gibt Momente im Leben, die brennen sich für immer ins Herz. Einer dieser Momente ist, wenn du
erkennst: Dein Kind möchte mit dir sprechen – aber kann es nicht. Nicht aus Trotz, nicht aus
Schüchternheit. Sondern weil sein Körper die Worte nicht formen kann. So begann unsere Geschichte mit
Luisa – einer fröhlichen, wachen und sensiblen Tochter, deren Sprache lange Zeit nur in Lauten zu uns
fand.
Laut, fröhlich, unverständlich – die ersten Zeichen
Schon früh machte Luisa auf sich aufmerksam. Sie war kein stilles Baby – im Gegenteil. Sie sang,
plapperte und rief mit lauter Stimme – aber es waren keine Worte, sondern Vokale. Melodien aus „a“, „i“
und „o“, die sie ausdauernd und voller Freude von sich gab. Sie wollte kommunizieren – das war spürbar.
Aber es kamen keine Konsonanten, keine verständlichen Silben. Trotzdem war ihr Wille da. Sie versuchte,
sich mitzuteilen – auf ihre Weise.
Die Sorge wuchs – und mit ihr die Verzweiflung
Als andere Kinder sprachen, blieb Luisa stumm – zumindest für Außenstehende. Wir spürten, dass etwas
nicht stimmte. Doch die ersten Ärztinnen meinten: „Ein Late Talker – das wird schon.“ Ich wollte das
glauben. Mein Mann dagegen drängte auf eine klare Diagnose – und behielt recht.
In dieser Zeit durchforsteten wir das Internet. Wir lasen Studien, schauten YouTube-Videos – aber fast
alles, was wir fanden, machte uns Angst. Es gab kaum Mut machende Erfahrungsberichte. Wir fühlten uns
allein, überfordert – und gleichzeitig wollten wir Luisa so sehr helfen.
Die Diagnose – und viele offene Fragen
Als Luisa schließlich die Diagnose 'verbale Entwicklungsdyspraxie' erhielt, waren wir erschüttert. Diese
seltene neurologische Störung betrifft die Sprechbewegungsplanung – das Gehirn weiß genau, was
gesagt werden soll, aber die Muskeln im Mundbereich bekommen die richtigen Signale nicht oder nur
schwer übermittelt. Es ist, als würde ein Orchester bereitstehen – jedes Instrument gestimmt, alle Musiker
an ihrem Platz – aber der Dirigent fehlt. Die Musik bleibt chaotisch, weil niemand den Einsatz gibt. So fühlt
sich verbale Dyspraxie für viele Kinder an.
Bereits vor der Diagnose hatte Luisa Logopädie begonnen – mit der Annahme, sie sei ein sogenannter
'Late Talker'. Doch die Fortschritte blieben aus. Die Logopädin blieb vage, wich Fragen aus – bis mein
Mann entschlossen sagte: ,,Wir brauchen jetzt eine klare Diagnose. Wir müssen wissen, was los ist.'' Diese
Worte öffneten den Raum – und schließlich wurde offen ausgesprochen, was wir längst vermutet hatten:
verbale Dyspraxie.
Und dann kam diese Angst – tief, bohrend, kaum in Worte zu fassen.
Was, wenn sie niemals sprechen kann?
Was, wenn sie für immer in ihrer Welt bleibt, unfähig, sich mitzuteilen? Diese Vorstellung begleitete
uns wie ein Schatten. Wir weinten viel. Wir fühlten uns hilflos. Es gab Tage, da haben wir uns gefragt, wie
ihr Leben wohl aussehen würde – ohne Sprache. Wie kann man ein Kind wirklich begleiten, wenn es nicht
sagen kann, was es fühlt, denkt, braucht? Diese Sorge war lähmend – und doch mussten wir
funktionieren. Für sie. Für uns. Für die Familie.
Zusätzlich wurde deutlich, dass Luisa als Säugling das KISS-Syndrom hatte. Wir waren beim
Osteopathen, und es wurde später erklärt, dass in seltenen Fällen ein Einrenken eine neurologische Folge
haben kann – wie z. B. ein sogenannter Mini-Schlaganfall. Ob das bei Luisa der Auslöser war, oder ob es
genetische Ursachen hatte, wissen wir bis heute nicht. Ich war in dieser Zeit schwanger mit unserem
fünften Kind – und plötzlich standen wir vor der Frage ob es wieder so sein wird? Es war keine
Ablehnung gegenüber dem neuen Leben – sondern eine tiefe, ehrliche Angst. Und trotzdem überraschte uns Luisa immer wieder. In einem Alter, in dem andere Kinder noch eng begleitet werden,
kletterte sie selbstständig auf einen Stuhl, holte sich ihr Brot, bereitete es sich selbst zu.
Nicht, weil wir nicht da waren – sondern weil sie eigene Lösungen fand, wenn die Sprache nicht reichte.
Sie war erfinderisch, mutig und willensstark – schon als kleines Kind.
Ein langer Weg mit kleinen Schritten
Nach der Diagnose begann Luisa die Logopädie. Einmal pro Woche, mit vielen Bildern, Lautsymbolen und
Handzeichen. Sie machte Fortschritte – langsam, aber spürbar. Jeder neue Laut, jeder Blickkontakt wurde
zu einem kleinen Meilenstein. Es war kein einfacher Weg – für sie nicht, und für uns als Familie auch nicht.
Aber wir lernten, Geduld zu haben. Zu sehen, was wirklich zählt: Dass sie kommunizieren will. Dass sie
nicht aufgibt.
Freundschaft und Unterstützung – was wirklich hilft
In ihrer Kita wurde Luisa gesehen. Ihre Erzieherinnen blieben aufmerksam, gaben ihr Zeit und Raum.
Andere Kinder fragten freundlich nach, wenn sie etwas nicht verstanden – und lernten, mit ihr auf ihre
Weise zu sprechen. Das hat ihr unglaublich geholfen. Heute ist sie ein aufgewecktes Kind, voller Freude,
voller Geschichten. Sie hat Freund:innen gefunden, kommuniziert mit Gesten, Mimik – und Worten. Nicht
perfekt, aber mit Herz.
Mut machen – für andere Familien
Was wir aus dieser Zeit mitnehmen: Die größte Angst ist oft nicht die Diagnose – sondern das Gefühl,
nicht verstanden zu werden. Für das Kind. Und für die Eltern.
Bitte holt euch Hilfe. Es gibt so viele Wege – Frühförderung, Logopädie, Beratung. Und ja: Auch das
Jugendamt kann helfen. Wir haben in Berlin sehr gute Erfahrungen gemacht – wir wurden unterstützt,
nicht kontrolliert.
Luisa hat heute eine Stimme. Und ihre Geschichte soll anderen Mut machen. Denn auch wenn Sprache
nicht sofort kommt – Liebe findet Wege. Und manchmal reicht ein Laut, um zu sagen: Ich bin da
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